Auf der Suche

Ausnahmsweise wandere ich an einem Samstag. Das Wetter ist gut, wenn auch etwas kühl; so am frühen Morgen. In der Sonne, die sich ab und zu sehen lässt, ist es aber echt gut auszuhalten, weshalb ich meine Jacke in den Rucksack stopfe und in Mülheim, nahe dem Uhlenhorst, los gehe. Meine Gedanken kreisen direkt zu beginn meiner Wanderung um ein Buch. Dies lese ich seit einigen Tagen und darf jeden Tag nur ein Kapitel lesen. Am Ende jeden Kapitels bekommt man eine Aufgabe gestellt, eine Challenge, die es zu erfüllen gilt. Meist sind es Denkaufgaben, manchmal sind diese zu verschriftlichen, hin und wieder gibt es etwas zu recherchieren und einmal ging die Aufgabe über mehrere Tage. Heute muss ich mir ein Mantra erstellen.

Mantren sind heilige Silben, Worte oder ganze Verse aus der altindischen Sprache Sanskrit. Aber darum geht es nicht. Sondern ich soll mir ein Mantra (oder mehrere) erstellen, das zu mir und meinem Leben, zu meinen Gedanken und Gefühlen und zu meinen Problemen passt. Der Vers soll positiv und in der Gegenwart formuliert sein, da das Unterbewusstsein negierende Wörter wie nicht oder kein unberücksichtigt lässt. So wird dann aus „Ich bin nicht schlecht“ ein „Ich bin schlecht„. Deshalb müsste es korrekt heissen „Ich bin gut“ und nicht etwa „Ich werde gut werden„. Wenn wir in der Gegenwart formulieren fällt es uns leichter Vorsätze auch umzusetzen, da wir unserem Unterbewusstsein suggerieren, dass wir das bereits machen.

Nach zwei Kilometern erreiche ich die Stelle, wo ich in den Wald abbiege will. Gestern hat es stark geregnet, weshalb mich der feuchte Duft des Waldes sofort einhüllt. Es riecht nach feuchter Erde, Moder und grünen Blättern. Hier, zwischen Bäumen und Sträuchern, hoffe ich meinen Gedanken freien lauf lassen zu können. Rational, wie ich nun mal bin, gehe ich dir mir bekannten Sprüche systematisch durch und schaue ob ich was passendes finde. Das erweist sich jedoch schnell als falscher Ansatz. Ich überlege in eine andere Richtung, also was ich denn zum Ausdruck bringen möchte. Aber auch hier muss ich alsbald erkennen, dass ich auf dem Holzweg bin. Ich muss schmunzeln. Holzweg! Im Wald! Nein, sage ich in den Wald hinein, ich bin in keiner Sackgasse. Ich denke darüber nach, was denn mein Problem ist. Hab ich eins? Wie äussert sich das? Und was könnte ein Mantra daran ändern?

Während ich so nachdenke, fällt mir eine weitere Challenge ein, die auf Pythagoras zurückzuführen ist und Marcus Aurelius (ich weigere mich ihn Marc Aurel zu nennen) wichtig war. Es geht darum, die Mechanismen des Lebens zu verstehen. Hierzu geht man Beispielsweise in den Wald und entdeckt etwas. Das beobachtet man dann so lange, bis man es verstanden hat. Oder man liesst dazu ein Buch, treibt Recherche, um es zu verstehen. Meine Idee ist, die Symbole, die meist weiss auf schwarzem Hintergrund auf die Bäume gemalt sind, zu verstehen. Dazu beginne ich damit diese zu fotografieren. Zu Hause, so mein Plan, werde ich diese mit Hilfe des Internet entschlüsseln und lernen sie effektiv anzuwenden.

Da ich diese Tätigkeit auch während des Nachsinnens über mein Mantra erledigen kann, setze ich die Überlegung diesbezüglich fort. Manchmal, so wird mir bewusst, fürchte ich eine Situation die noch gar nicht eingetreten ist. Das heisst, ich male mir aus wie ich reagiere, wenn etwas bestimmtes eintritt. Das ist natürlich vergeudete Zeit und verschenkte Energie. Weshalb meine erstes Mantra „Ich konzentriere mich auf die Dinge, die ich kontrollieren kann.“ lautet. Das Mantra ist universell und auf viele Situationen im Leben anwendbar. Sich über eine Gefahr, die nicht existent ist aber kommen könnte, Gedanken zu machen ist nutzlos. Man reagiert sowieso anders als zuvor angenommen. Ausserdem wenn die Gefahr nicht kommt, was mache ich dann mit meinem schönen Plan? Die Gefahr und ihr Eintreten entzieht sich meiner Kontrolle, ob ich darüber nachdenke liegt jedoch in meiner Hand.

Mit Mantra eins komme ich an der Sechs-Seen-Platte an. Ich wollte heute erneut hierher, weil ich beim letzten Wandern hier etwas entdeckt habe, was ich mir gerne genauer anschauen möchte. Einen Turm, bester gesagt ein Stahlgerüst, das über das ganze Waldgebiet ragt. Dort möchte ich rauf und mir alles einmal anschauen. Das möchte ich, weil ich neugierig auf die Aussicht bin, aber auch, weil ich mal Höhenangst hatte und sehen möchte ob ich mich überwinden kann so hoch zu steigen. Der Aussichtspunkt ist schnell ausgemacht, der Weg dorthin ist aber einige Kilometer von meinem Standort entfernt. Es sei denn, ich schwimme dort hin. Das würde die Strecke schon enorm verkürzen. Da ich aber nicht zum baden hier bin, gehe ich entlang der Seen und genieße die Aussicht. Heute sind viele Segelschiffe auf dem Wasser, wie ich zu meiner Freude sehen kann.

Auf dem Weg zu meinem Etappenziel mache ich Rast und lese etwas in den Selbstbetrachtungen von Markus Aurelius. Er schreibt dort sehr bildhaft von seinen Lehrern und seiner Familie. Am meisten jedoch beeindruckt mich die Beschreibung seines Vaters. Mich würde es freuen, wenn meine Kinder ebenso positiv über mich denken würden. „Vielleicht„, so überlege ich mit Blick auf das vor mir liegende Wasser, „tun sie dies bereits„. Wir haben schon eine sehr enge Bindung, stelle ich erheitert fest. Und wir helfen einander, sind immer für den anderen da. Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit und ich beschliesse meine Pause zu beenden. Der Turm wartet und ich merke, dass ich bereits ganz aufgeregt bin.

Die letzten Meter zum Turm geht es Bergauf. 63 m habe ich auf der Karte abgelesen. Und ich habe den kürzesten Weg dorthin gewählt. Kein drum herum, hin und rauf! Kurz vor dem Ziel mache ich noch ein Bild vom Turm. Und bald stehe ich an der ersten Stufe. Tausend Gedanken schiessen mir durch den Kopf, aber es gibt für mich kein Zurück. Warum auch? Es ist ja noch gar nichts passiert. Ich steige Stufe für Stufe nach oben ohne nach unten zu schauen. Mein Blick ist starr geradeaus. Ich spüre wie mein Puls sich langsam erhöht. Ich rede mir ein, dass das vom Treppensteigen kommt. Insgeheim weiß ich, dass sich mein Adrenalinspiegel erhöht. Nach 3/4 der Strecke spüre ich Angst in mir aufsteigen und mir kommt der Gedanke, was ich denn tun würde, wenn jetzt der Turm anfängt zu schwanken. Sofort greife ich zu meinem Mantra und beginne es innerlich aufzusagen. „Ich konzentriere mich auf das, was ich kontrollieren kann!„, zitiere ich innerlich und merke wie meine Schritte wieder fester werden und meine Angst langsam schwindet. Kurz darauf bin ich auch schon oben angekommen und bleibe stehen. Ich bin starr, aber nicht vor Angst, sondern weil mich der Ausblick von hier oben völlig überwältigt. Es ist unglaublich wie weit ich sehen kann.

Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich wieder unten an. Ich freue mich wie ein kleines Kind, dass ich gegen jeden Widerstand bis nach oben gekommen bin. Ich habe sogar ein kleines Video von dort für meine Lieben zu Hause gemacht. Stolz ziehe ich weiter. Ich summe ein Lied, während ich mich dem Duisburger Wald nähere. Der Text des Liedes handelt davon, dass einige Menschen zu allem eine Meinung haben. Oft auch zu Dingen, die viel zu komplex sind um sie allein überschauen zu können. Trotzdem geben sie sich als Profi aus und hauen einen klugen Spruch nach dem anderen dazu raus. Vor einiger Zeit habe ich beschlossen mich nicht mehr an solchen Gesprächen zu beteiligen. Mein Mantra soll mir den Weg dahin ebnen. „Ich denke nach bevor ich rede!„, lautet also mein zweites Mantra. Wenn sich beim Nachdenken ergibt das ich zu einem Thema nichts zu sagen haben, so soll es mir recht sein. Ich habe so oft den Platz des Redners, da sollen ruhig andere mal zu Wort kommen. Ich grinse und passiere die Stadtgrenze Duisburg zu Mülheim.

Erneut lege ich eine Pause ein und nehme mir mein Büchlein zur Hand. Ich lese und bin immer wieder erstaunt, dass die Ansichten, die dort stehen, schon so alt sind. Sie haben an Aktualität nichts verloren und werden in unserem digitalen Zeitalter nicht genug hervor gehoben. Die Menschen haben das gesamte Wissen der Menschheit in ihrer Hosentasche und schreiben damit Schwachsinn bei Facebook oder posten sinnfreie Bilder bei Instagram. Ich nehme mich da nicht raus. Ich habe zwar meinen Medienkonsum seit Juni sehr zurück gefahren, aber ganz darauf verzichten kann ich immer noch nicht. Teils aus beruflichen Gründen, teils um meine sozialen Kontakte in der Ferne nicht ganz zu verlieren. Ich mache mich auf die letzten 5 km zu gehen. Ich nehme mir fest vor meine Medienzeit zu begrenzen. 15 Minuten täglich. Das sollte reichen um die neusten Ideen meiner Freunde zu bewundern oder Ihre Urlaubsfotos zu bestaunen. Kreativ sind sie ja. Etwas was mir irgendwie völlig fehlt.

Nach insgesamt 24 km komme ich an meinem Startpunkt an. Während ich mein Schuhwerk wechsle lasse ich meinen Weg nochmal Revue passieren. Ich habe zwei Mantren gefunden, bin auf einen 20 Meter hohen Turm gestiegen und wurde mit einer unglaublichen Aussicht belohnt. Ich habe von Markus Aurelius gelernt, den Fokus auf mich selbst zu richten und von Pythagoras die Dinge um mich herum bewusster wahr zu nehmen. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich mit mir selbst verbringen konnte. Und für die Bildung die mir zuteil wird. Ich verstehe nicht alles, aber ich werde geduldig daran arbeiten. Carpe diem!

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