Allein in der Fremde

Getreu meinem neuen Motto in Erlebnisse zu investieren, entschied ich mich die Familie beim Besuch von Freunden in Rheinland-Pfalz zu begleiten. Bislang konnte ich mich immer erfolgreich davor drücken, aber als ich gesehen hatte wo sie wohnen, wollte ich unbedingt dahin: zum Rheinsteig. Einem Wanderweg von Bonn bis Wiesbaden, der sich auf 320 km Länge rechts am Rhein befindet. Ich wählte also zwei Wanderrouten aus um zumindest 40 km dieser Strecke zu erleben. Den Loreleyfels wollte ich auf keinen Fall verpassen und auch die 1909 erbaute Clemens-Kapelle, die zwischen zwei Burgen liegt, wollte ich sehen.

Wir fahren also am Freitag morgen los und ich freue mich schon darauf, bald in meine Wanderstiefel zu springen. Da noch Ferien sind kommen wir gut voran und der Strassenverkehr hält sich in Grenzen, sodass wir schon bald die Autobahn verlassen und uns über die Landstrasse Richtung Koblenz bewegen. Dort angekommen sehen wir den Rhenus Pater (Vater Rhein) rechts von uns. Bei Sankt Goarshausen, kurz vor unserem Ziel in Bornich, schließt der Rhein mit einer scharfen Flussbiegung den berühmten Loreleyfelsen ein. Mit seinen hochrangigen Baudenkmälern, den rebenbesetzten Hängen, seinen auf schmalen Uferleisten zusammengedrängten Orten und den auf Felsvorsprüngen aufgereihten Höhenburgen gilt das Mittelrheintal als Inbegriff der Rheinromantik. Also ideal zum Wandern.

Im Hotel angekommen, ziehe ich mich rasch um und überprüfe meine Ausrüstung auf Vollständigkeit. Ich kenne mich hier nicht aus und ein leerer Akku oder ein fehlendes mobiles Ladegerät können da echte Probleme verursachen. Ebenso sollten die Trinkflaschen voll und Wechselkleidung vorhanden sein. So mache ich mich auf den Weg nach Dörscheid. Dort steht in 260 m Höhe an einer exponierten Stelle die Statue des Christopherus, dem Schutzpatron der Reisenden – also auch der Wanderer (nicht nur der Autofahrer, wie immer angenommen wird). Wenn man dort ankommt geht es steil bergab und man muss schon etwas alpine Erfahrung, sowie geeignetes Schuhwerk mitbringen, um hier sicher weiter gehen zu können. Der Ausblick ist atemberaubend und ich habe wieder einmal Glück mit dem Wetter. Ich nehme mir einen Moment Zeit und gehe in mich. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich allein verbringen kann, das ich Fit genug bin solche Wege zu beschreiten und für die finanzielle Freiheit, die mich hierher bringt. Ich freue mich erneut meine Höhenangst überwunden zu haben und weitergehen zu können.

Gestern habe ich gefastet und ich spüre heute, nach nur 90 Minuten, wie mir die Anstrengung des Bergwanderns zu schaffen macht. Dazu kommt, dass ich gestern ein neues Cardioprogramm getestet habe, dass mir ebenfalls in den Beinen steckt. Aber ich gebe nicht auf. Die Landschaft ist so schön, die Wege so vielseitig, dass ich gar nicht anders kann als weiterzugehen. Nach zwei Stunden komme ich zum Urbachtal und ich stelle fest, dass ich die letzten 30 Minuten nur bergab gegangen bin. Das hat für Erholung gesorgt und mich für den kommenden Aufstieg gestärkt. Hier muss ich nämlich 200 Höhenmeter in kurzer Distanz zurück legen um dann an der Waldschule entlang des Bornichbachs weiter in Richtung Loreley zu wandern. Mir wird bewusst, dass ich seit geraumer Zeit keine anderen Menschen gesehen habe. Ich bin allein und nur die moderne Technik weiß wo ich mich gerade befinde. Das ist wichtig und sollte jeder, der die Möglichkeit dazu hat, in Anspruch nehmen, wenn er allein Wandern geht. So kann man im Notfall schnell gefunden werden. Das ich mich verlaufe, davor habe ich keine Angst. Ich kenne mich mit den Windrichtungen aus, habe einen guten Orientierungssinn und kann die Zeichen der Natur durchaus deuten (wo wächst das Moos am Baum, wohin fließt ein Gewässer, usw).

Ich steige also wieder Bergauf und halte nach einiger Zeit inne. Ich bin ausser Puste und muss ein wenig verschnaufen. Ich blicke zurück und mir kommt ein Gedanke. Immer wenn man denkt, dass man nichts geschafft hat, sollte man zurück blicken und schauen was schon alles hinter einem liegt. Ich nutze die Zeit und schaue in die Vergangenheit. Ich denke an meine Kindheit, an meine Zeit als junger Mann, meine ersten Versuche als freier Unternehmer, später dann die Ehe mit der Frau die mich ständig unterstützt und die Kinder, die zu mir aufblicken. Ja, ich habe allen Grund mich beim Wandern zu erden, mein Handeln zu hinterfragen und meine Ziele zu überdenken. „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis“ sagt man und ich möchte nicht auf dem Bauch landen oder einbrechen. So schadet es nicht ab und zu mal in die Vergangenheit zu schauen und zu sehen was man bereits geleistet und wer einen dabei begleitet hat. Ich stelle bei solchen Betrachtungen auch immer wieder fest, dass nicht mal das Leid für die Ewigkeit ist.

Mit diesem Gedanken schreite ich voran. Am Gipfel angekommen entdecke ich eine Bank und entschliesse mich abermals Rast zu machen. Ich trinke etwas und studiere die Karte. Wohin mich wohl mein Lebensweg führen wird? Wenn es eine Karte dafür gäbe, könnte ich sie auch so lesen wie die, die ich vor mir sehe? Die Vergangenheit hat mir gezeigt, dass sich die Dinge selten so entwickelt haben, wie ich sie voraus gesagt hätte. Rückblickend betrachtet war es zumeist besser und nur selten wurde es eng für mich. Und immer, wirklich immer, gab es eine Lösung! Das klingt unwahrscheinlich, aber ich stehe hier und bin der Beweis dafür. Ich wäre nicht da, wo ich bin, hätte es nicht immer eine Lösung gegeben. Jeder, der seine Vergangenheit durchleuchtet, wird feststellen, dass es für jedes Problem eine Lösung gab. Manchmal sogar da, wo man es nicht vermutet hätte. Das Leben stellt uns nie vor Aufgaben, die wir nicht bewältigen können. Ich stehe auf, schultere meinen Rucksack und gehe frohen Mutes weiter Richtung Loreleyfels.

Immer wieder gehe ich auch über Felder und Wege mit freier Sicht über das Land. Es ist unglaublich für mich, wie viel ich dieses Jahr schon gewandert bin und wie wenig ich tatsächlich gesehen habe. Sicher, die Umgebung während meiner Wanderungen nehme ich sehr wohl wahr, aber um es frei nach Leonardo da Vinci am Sterbebett zu sagen „So viele Wege und nur so wenig Zeit“. Und es stellt sich eine andere Frage für mich: Wenn ich wüsste, dass ich morgen sterbe, was würde ich tun? Wandern? Feiern? Meine Angelegenheiten ordnen? Luther soll gesagt haben „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen„. Ich glaube nicht, dass Luther dies gesagt hat. Er hatte keine Angst vor dem Weltuntergang, sondern freute sich darauf. Aber einen Baum würde ich auch nicht pflanzen wollen. Ich glaube ich würde den Tag damit verbringen zu überlegen, was mir so wichtig ist, dass ich es an diesem Tag unbedingt erledigen muss. Und dann wäre er vorbei, der Tag. Und ich auch. Gut, dass ich es nicht weiß. So kann ich wandern und das Leben genießen, schlafen und darauf vertrauen, dass ich morgen wieder wach werde.

Ich komme am Loreleyfels an und bin augenblicklich euphorisiert. Die Strapazen haben sich gelohnt. Ich habe einen unbeschreiblichen Ausblick und versuche zu erfassen was ich da sehe. Mit fällt ein, dass Loreley seit dem Kunstmärchen Lore Lay, das Clemens Brentano in seinem Roman Godwi (1801) in Balladenform erzählte, auch der Name einer Zauberin oder Nixe auf diesem Felsen ist. Brentanos Erfindung hatte auf der Stelle eine so starke Rezeption, dass schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Erzählung als alte Sage stilisiert wurde. Hier sehen wir einmal aus jüngster Vergangenheit, wie Geschichten entstehen und sich verselbstständigen. Als (un-)anständiger Wanderer mache ich ein Selfie mit dem Rhein im Hintergrund. Ich möchte diesen Moment unbedingt festhalten, bevor ich mich auf den Weg zum Hotel mache.

Die letzten 30 Minuten gehe ich entlang der Strasse. Es dämmert bereits und ich freue mich auf eine Dusche und etwas zu Essen. Ich lasse die Eindrücke und starken Momente des Tages Revue passieren und alles schwere und belastende los. Es bleibt hier zurück am Strassenrand, jenseits aller Romantik. Ich blicke jetzt nicht mehr nach hinten. Mein Weg war ein Rundlauf und ich erkenne in der Ferne meinen Startpunkt. Anfang und Ende liegen heute dicht bei einander; wie so oft wenn ich wandere. Emotional und Gedanklich war es ein toller Tag. Ich habe wieder viel über mich gelernt, mir Dinge verdeutlicht und Gedanken eröffnet. Ich sah wenige Menschen aber vieles das die Natur erschaffen hat. Mir ist klar, dass ich den gesamten Rheinsteig niemals sehen werde, aber ich werde weiter wandern und in mir aufnehmen. So lange bis mein Weg endet. Passt auf euch auf und genießt das Leben!

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